Wer ist der Angreifer?
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Über das Jahr 1914, Hetzkampagnen gegen Russland und einen klugen Schweizer Exoberst
Von Stefan Siegert
imago/United Archives International
Auf Pferderücken: Munition auf dem Weg zu den Verbündeten (Hamel, Frankreich, 1916)
Man kommt in Gedanken immer wieder darauf zurück. 1914. So ungefähr muss es gewesen sein, die Hetze, der Hass, der – heute durchgeschaltet wertebasierte – Propagandapilz in voller Entfaltung. Mit allerdings dem einen, alles entscheidenden Unterschied: Es gab 1914 noch keine Atomwaffen. Das heißt, alle konnten mit Begeisterung und ohne Angst vor dem Globalsuizid die einzig gerechte Strafe für soviel Greuel und Schlechtigkeit auf seiten des Feindes herbeisehnen – der Feind, das waren damals die Serben, die es frech gewagt hatten, den österreichischen Thronfolger zu ermorden; es war vor allem der Franzos’, er sann ja die ganze Zeit schon auf Rache für »70/71«; und es waren natürlich mal wieder die Russen. Die einzig gerechte Strafe: der Krieg. Jeder Krieg der Neuzeit begann mit einer Hetzkampagne, mit fundamentalen Lügen. Der Feind musste mit allen Mitteln bis hin zu raffinierten Greuelinszenierungen verachtet, gehasst, verdammt sein.
Es waren wenige, die 1914 einen kühlen Kopf behielten. Selbst ein mit Recht als Leuchtturm des bürgerlichen Journalismus bewunderter Autor wie Theodor Wolff brauchte zwei Jahre, bis er sich von seiner Kriegsbegeisterung geheilt hatte. Thomas Mann brauchte länger, immerhin: Er schaffte es auf beeindruckende Weise noch im Exil.
Heute sieht es eher aus, als müssten wir auf die Theodor Wolffs, die Alfred Döblins und Erich Maria Remarques, die Hermann Hesses und Brüder Mann lange warten. Heute schallt es uns von überall dröhnend entgegen: »Stimmt ja alles nicht!« Die freieste Presse, die es je auf deutschem Boden gab, weiß es besser: »Im Unterschied zu 1914«, triumphiert sie, »war es Putin, der, wie 1914 der deutsche Kaiser, den Krieg vom Zaun brach!«
Aber sage niemand etwas gegen die sozialen Medien. Neben allem Schlechten, was sie in Händen schlechter Menschen anrichten, haben sie ihr Gutes in Händen guter Menschen. Ob indes der ehemalige schweizerische Oberst Jacques Baud ein guter oder schlechter Mensch ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Er ist ein bürgerlicher Mensch, er hat sich akademisch mit den Ursachen des Krieges beschäftigt und ist als Schweizer Militär für die UNO und für die NATO unterwegs gewesen, unter anderem vier Jahre in der Ukraine. Und er hat sich, über die sozialen Medien verbreitet, von einer Schweizer Zeitung interviewen lassen. Als Bürger eines neutralen Landes, das aus schlechten Gründen auf der russischen Liste »unfreundlicher« Staaten gelandet ist, zeigt er sich geradlinig empört über die westliche Art Berichterstattung. Was er als exzellenter Kenner der Situation und ihrer Vorgeschichte dagegen setzt, dürfte in manchen Punkten selbst linke Durchblicker überraschen. Im Ergebnis kommt er zu dem Schluss: Nein, Putins Krieg ist eine Katastrophe wie jeder Krieg, aber er ist kein Angriffskrieg. Er ist ein Verteidigungskrieg gegen eine aggressive NATO, die Russland seit dem Verschwinden der Sowjetunion Schritt für Schritt systematisch eingekreist hat (kurzelinks.de/baud-ukraine).
Wenn es, neben zahllosen Fakten, eines letzten Beweises dafür bedürfte, wer der Angreifer und wer der Angegriffene ist, dann liegt er in der Antwort auf die Frage: Wo war die große Hetzkampagne vor diesem, dem ukrainischen Krieg? Von seiten Russlands gab es zwar die kriegsüblich extrem einseitige Sicht auf die jeweilige Situation. Aber weder vor dem Krieg noch in seinem Verlauf waren aus Moskau hasserfüllte Töne in Richtung Gegenseite wahrzunehmen. Statt dessen anhaltendes Dringen auf friedliche Lösungen bis zuletzt, ja noch während des Krieges, alles NATO-seitig abgebogen. Der Westen dagegen arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt in einer Weise an der Dämonisierung Putins, die von Anfang an auf einen Krieg hindrängte. Wer ist der Angreifer, wer der Angegriffene?
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Overstatement from Davos 2017. |
Liberal corporative capitalism, for reasons of lowering traveling costs, proposed not to travel to history alone but packed togather with NATO, EU and unipollar World Order. Workers participation has good chances to step in provisionally, buying time for full scale workers selfmanagment. |